Thrice – To Be Everywhere Is To Be Nowhere
Wenn Weihnachten kein Grund zur Vorfreude, sondern eine Stressfaktor ist, dann ist man wohl erwachsen. Wenn man nicht die Tage bis Heiligabend zählt, weil man es kaum mehr erwarten kann, bis der alte Mann mit den heißersehnten Geschenken rausrückt, sondern weil bis dahin noch so viel zu tun ist. Diese Magie verschwindet mit der Kindheit leider unwiederbringlich. Aber zum Glück nicht ersatzlos.
Mein Heiligabend fiel dieses Jahr schon auf den 27. Mai, der Tag, an dem das hier besprochene Album endlich erschien, und das erste Adventskalender-Türchen machten THRICE am 16. März auf, als sie einen 15-Sekunden-Schnipsel neuer Musik posteten, begleitet vom noch mysteriösen Hashtag #tbeitbn. Auf einmal war ich wieder hibbelig wie ein Kind vor der Bescherung. Extradicke Schokofiguren gab es dann in Folge in Form des ersten neuen Tracks, „Blood On The Sand“, der Thrice in starker Form zeigte, aber ob seiner poppigen Melodie und der geradlinig rockenden Gangart einige Fans skeptisch werden ließ, ob das erste neue Material seit der 2011 angetretenen Auszeit das Warten wert sein würde. Ob die Band noch einmal die Magie von „Alchemy Index“ oder „Beggars“ beschwören könne? Die Single „Black Honey“ verhieß da nur Gutes: Ein schwerer Groover mit infektiösem Refrain, der auch textlich aufhorchen ließ. War man von Dustin Kensrue bislang assoziative, von Philosophie und Theologie beeinflusste Textzeilen gewohnt, gab er hier eine bissige Parabel zur amerikanischen Außenpolitik ab. Ein Mensch, der ein Bienennest plündert, weil er Honig haben will, und nicht versteht, warum die Bienen ihn stechen, weil er ja nur tut, was er für richtig hält. Damit ist Thrice schon mal ein instant classic gelungen, und das unheimliche Video macht noch ein paar Interpretationsräume auf.
„To Be Everywhere Is To Be Nowhere“ beginnt mit jenem Ankündigungs-Riff, und der Song dazu, „Hurricane“ ist genau so gut, wie man es sich erhofft hatte. An seinem Platz als zweiter Song auf der A-Seite ist „Blood On The Sand“ genau der richtige, mit dem das Album Fahrt aufnimmt. Überhaupt ist die Dynamik und der Spannungsbogen des Albums nahezu perfekt. Jeder Song ist am richtigen Platz, das Album fließt ohne Brüche von vorne bis hinten, dass es eine wahre Freude ist. „The Window“ ist der nächste Hammer, bevor „Wake Up“ überraschend Classic-rockig daherkommt. Thrice 2016 sind so kraftvoll und angriffslustig wie schon lange nicht mehr, die neue Klarheit in den Texten flankiert die Band mit den energischsten Stücken seit der „Fire“-EP. Sie schaffen es sogar, ihrem Schaffen mit jedem Song neue Facetten hinzuzufügen, und das obwohl Thrice mit ihrem „Alchemy Index“ Rockmusik im Prinzip durchgespielt zu haben schienen. „Death From Above“, das sich mit der amerikanischen Kriegsführung mittels Drohnen befasst, scheint sich zuerst von einem A Perfect Circle-Album verirrt zu haben. Das superstarke „The Long Defeat“ wächst zur Hymne heran, um dann wunderbar sanft auszuklingen. Das recht persönliche, aber leider auch ziemlich schmonzige Popstück „Stay With Me“ schlägt als einziger Ausfall zu Buche, aber geschenkt. Nachdem es mit „Whistleblower“ nochmal ein ordentliches Pfund gab, endet die Platte mit dem atmosphärischen „Salt and Shadows“, das an die Ambient-Spielereien der „Water“-EP erinnert. Dass sie im Anschluss noch einmal ein verhalltes Piano-Reprise des Openers daran hängen, ist nur konsequent, denn danach hat man noch lange nicht genug.
Thrice scheinen selbst sehr glücklich zu sein, wieder in bewährter Harmonie zueinandergefunden zu haben. „Wer überall ist, ist nirgends“ könnte man fast als Fazit der verhältnismäßig schnell beendeten Bandpause verstehen (tatsächlich geht der Ausspruch auf den römischen Philosophen Seneca zurück, der auch ein kurzes Instrumental gewidmet bekommt). Thrice sind wieder im Hier und Jetzt, und haben den Fans und sich selbst ein Geschenk gemacht, das auch noch zur kommenden Weihnachtszeit von Bedeutung sein wird. Jetzt bin ich erst einmal wunschlos glücklich.